




12. Juni, Montag, Zug fällt aus!
Kurz vor 7 früh, Dresden Neustadt, Bahnhof. Durchsage am Gleis: Zug entfällt. Katastrophe! Alle Züge und Busse und Umstiege zusammen genommen 15 Stunden Plan-Fahrzeit: Noch später und wie soll man, mit welchem Bus nachher - in der Slowakei? Ich seh uns im Wald schlafen, nein besser Hotel in Bratislava. Komisch, Anzeige am Gleis normal, Zug käme, pünktlich. Leute am Gleis unbeeindruckt, irgendein Insider-Wissen? Ipad fragen, Internet: „Fahrt fällt aus“. Nächster Zug in der Liste heißt „Aktuelle Alternative“, selbes Gleis, selbe Zeit, selbes Ziel, wir machen lange Augen, was unter „Ausfall“ zu verstehen ist: Aha, Zug heißt statt EC 459 jetzt EC 60 459, sozusagen kommt der Zug nicht persönlich, sondern sein Zwilling als Vertretung. Ein Klon-Zug, und das zu wissen ist, wie mir das erste mal hier offenbar wird, so wichtig, dass man Leute am Gleis gern in Schrecken versetzen kann. 7:30 Uhr, schöne, stille, planmäßige Fahrt, Abteil, ein Mann bei schwerer Arbeit am Laptop. Viola isst schon Stulle, ihr Hündchen, in Hundetasche unsichtbar, schleckt was oder schnurchelt. Kurz vor 8, eine Frau möchte auch in unser Abteil. Die Hundetasche, also das Hündchen darin, protestiert, beruhigt sich aber gleich und lässt den neuen Gast mit sitzen.
Prag, Stunde Aufenthalt, kurzweiliger Shopping-Bahnhof, Viola erzählt, zu Corona ist man einfach hier rüber, keiner mit Masken, wo in Deutschland 2G, oder 3G, hier überall rein. Wir setzen uns raus auf eine Bank und essen Violas Muttis Stullen.
Anschlusszug +20 Minuten Verspätung. Viola sagt, Tschechien sei immer so. Noch schlimmer als die Deutsche Bahn? - Als wir endlich im Zug sitzen, Regio-Jet, alles andre als Deutsche Bahn: Kein Sozialdarwinismus, sondern jeder seinen reservierten Platz, wir zweite Klasse, breite Ledersitze wie Deutschlands first class. Jeder einzelne Platz hat einen Ipad-artigen Bildschirm vor sich, an des Vordermanns Lehne installiert, zum Durchscrollen von Infos, Hörstöpsel anfügen, Radiosender hören, Musik, …, so eine class in Deutschland unbekannt. Service kommt herum und schenkt jedem eine Flasche Wasser, so selbstverständlich, dass er das „Thank you“ gar nicht abwartet. Er kommt ein zweites mal rum und schenkt jedem mit freundlichem Lächeln einen Kaffee, Saft oder Tee. Ein drittes mal, Zeitungslektüre. Frohes Schnattern, so entspannt und gleichmäßig, dass einer schlafen kann, zugleich lebendig, kann einer wach und munter arbeiten. Service kommt ein viertes mal rum, holt den Müll ab. Viola meint: Nächstes mal probieren wir die erste Klasse, was wird da noch kommen! Ich frage Viola noch mal: Ist das hier wirklich zweite? Ja, 2 B, die schlechtere Zweite! Eine solche Fahrt 4-5 Stunden, 300 km, 18 Euro (Prag - Bratislava), während Deutschland: stehend in elende Waggons gepfercht 2-3 Stunden, 150 km (Leipzig - Brandenburg/Havel), schon 50 Euro kosten. Die Gepäck-Ablage über den Köpfen ist gleichzeitig ein gedämpfter Spiegel, 10 Sitzreihen lang sieht man die Leute von oben gespiegelt: vorn spielt einer Schach an dem Lehnen-Bildschirm.
Stunde in Bratislava ziemlich kurz, Bustickets und Abendessen besorgen, Viola fragt slowakisch am Schalter, ob die Frau Englisch kann, die Frau schüttelt entschuldigend den Kopf, da weiß Viola wie aus der Pistole auf slowakisch: 2 Tickets nach Zvolen bitte, die Frau strahlt, slowakisch hört man hier gern. Die Pizza auf der Hand ausgezeichnet! Viola sagt, Pizza ist geheimes Nationalgericht. Der Bus steht schon, wir wollen unser Gepäck in den Laderaum schaffen, Busfahrer fragt, wohin, Viola sagt: Zvolen. Er guckt fragend. Nochmal: Zvolen, Swollen, äh, hm. Andere Leute - Wohin? - Zvolen. Deren Zvolen klingt genauso wie Violas, nur dass er‘s bei ihnen gleich versteht. Schöne ruhige Busfahrt, immer glatt Autobahn, ohne Kurven und Ruckel, getönte Scheiben wie Sonnenbrille, Sonnenbrillenbus, oder fahrende Bussonnenbrille, lebensfrohe 80er-Musik, und ich zeichne.
Vor Zvolen Landschaft wie am Rhein, Viola sagt: Nicht Rhein, sondern Hron!
Einfahrt in Zvolen wie Rügen Prora, graue, hohe Platten, historisch, niemals geschönt worden, wie Aussageabsicht: Hier gibt‘s nichts zu schönen. Genau das macht sie schön wie Gruselburgen. Viola sagt, das Gebäude ist die Uni. Hündchen muss Beine verteten. Im Busbahnhof, -tunnel, -halle warten fühlt sich fast an wie unter der Brücke schlafen, man wartet wie ein Verwarloster, ich sehe erst nicht so genau hin, wie die vielen lungernden Gestalten aussehen und was sie im Schilde führen, und als ich doch mal hinsehe: Lauter Ordentliche, wie wir durch die versüffte Buswartehalle in Verwahrlosungsverdacht, ins Verwahrloste hinein gezogen. Bus fährt ein, nur noch halbe Stunde Fahrt, und Viola sagt, der schönste Abschnitt der ganzen Reise, am Fluss entlang, Sicht auf Felsen, Grün, Tal, Banska Stiavnica war ein Vulkan. Und hier steigen wir aus, da ist auch schon die Wohnung, 5. Stock, früher war‘s Neubau, wir sagen aus Gewohnheit immer noch Neubau zu Vertretern dieser Gattung.
Treppenflur hoch, alles Wohnungstüren, wie „Zuhause“. Wir haben Flur, zwei Zimmer, Balkon, Küche, Bad, Dusche, nett eingerichtet. Hündchen ist ein Läufer, halb 10 und noch mal Stunde raus den Ort begrüßen, die Gassen, Treppen, Lämpchen, Sterne, …, er kennt alles noch von vor 5 Jahren, als Viola mit ihm hier gewohnt hat, Stipendium damals, und viel hat sich verändert.
(Am nächsten Tag Faktencheck: in ausgeruhtem Zustand Stockwerkezählen, wir wohnen nicht fünften, sondern dritten, gefühlten fünften.)